Zweie

Ein experimenteller Kurzfilm von Maryam Motallebzadeh; Bremen, 7:30 Min. 2006

Sendedatum: 16.08.2006


 


Johann Wolfgang von Goethe fühlte sich dem persischen Dichter Mohammed Schemseddin Hafiz seelenverwandt. Seine Verehrung drückt er in seinem „Divan“ (1814-1836) aus: „Wer sich selbst und andre kennt, Wird auch hier erkennen: Orient und Okzident Sind nicht mehr zu trennen. Sinnig zwischen beiden Welten Sich zu wiegen, laß ich gelten …“ Noch 1798 hatte Goethe in den prophetischen „Weissagungen des Bakis“ über die schier unüberwindliche Differenz der Elemente nachgedacht. In der fünften Weissagung heißt es: „Zweie seh’ ich! den Großen! Ich seh’ den Größern! Die beiden reiben, mit feindlicher Kraft, einer den andern sich auf …“ Nur die Parze wisse, wer der Größere ist.

„Zweie“, das sind zunächst die Naturelemente, Wasser und Erde, „Felsen und Land, Felsen und Wellen“. Doch der Kampf der Elemente steht nicht für sich. Allegorisch verdeutlicht er politische wie religiöse Konflikte. Der Kurzfilm „Zweie“ der persischen Künstlerin Maryam Motallebzadeh veranschaulicht die Auseinandersetzung im seelischen Erleben zwischen den Welten. Die gegenläufige Rolltreppe, ein Tunnel oder Gleise „beschreiben“ die Irritationen der Ankunft in der Fremde. Es ist der andere Ort, in den der Koffer getragen wird, ein besonderer Ort: Beschriftete Schuhe, Federn auf dem Boden, ein Bett, Schriftzüge auf der Bettdecke, ein weißbeschriftetes schwarzes Negligé. Die Reisende am Fenster ist angekommen; aber sie ist nicht allein. Ihre Reflexion begleitet sie, ihre Kultur, ihre Geschichte, ihre Tradition. Mit verknoteten Bändern äußern sich Wünsche und Erinnerung. Grün und Rot. Sehnsucht und Verbot. Eine Moschee in Teheran erscheint wie ein sichtbarer Gedanke. Die beschriebenen und angehefteten Tapeten enthüllen Denkvorgänge. Die verschiedenen Schriftzeichen vermengen sich wie die Gedankenwelten – Persisch und Deutsch. In der Türöffnung befindet sich ein Spiegel. Das „Leben in zwei Sprachräumen“ wirft den Einzelnen auf sich selbst zurück - bis tief in den Schlaf. Die Einheit beider Kulturen ist eine über dem Bett schwebende Kugel, ein schwarzes geometrisches Gebilde mit weißer Schrift, ein Artefakt ...

„Bleib still, der Zug fährt, mach Deine Augen zu und atme mit mir“. Der gefilmte Raum gleicht einer Seelenlandschaft. Eine Komposition aus dem Bereich Neuer Musik begleitet die kontemplativen Visualisierungen. Der innere Dialog, das Leben in einer „zweiten Haut“ eröffnen sich. Wer ist der Größere? Wo ist ein Zuhause? Die Sehnsucht nach dem jeweils Anderen ist von bedrückender Schwere. Die Erfahrung der Differenz schmerzt.

Reiner Matzker

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